Befähigung zur Freiheit – was Erziehung und Bildung bedeuten

„Erziehung ist Aufforderung zur Freiheit“ Dieses Wort stammt von dem Philosophen und Kant-Schüler Johann Gottlieb Fichte. Deutlich atmet es den optimistischen Geist der Aufklärung.

Heute über Erziehung sprechen

Wer heute über Erziehung spricht, denkt in der Regel nicht zuerst an einen Akt der Befreiung. Der Gedanke, Kindern das Handwerkszeug für die Bewältigung ihres künftigen Lebens mitzugeben, liegt da näher. In letzter Zeit spricht man daher lieber von Bildung als von Erziehung und meint damit nicht selten die kognitive Aneignung von Wissensbeständen, über die man dann wie über eine Art Sparguthaben verfügen kann. Gern ist in diesem Zusammenhang auch die Rede vom Humankapital, das auf diese Weise gebildet wird. Spätestens, wenn es eines Tages um die individuelle Behauptung auf dem Arbeitsmarkt oder um den kollektiven Wettbewerb zwischen den Standorten geht, wird dieses angesammelte Kapital, so die damit verbundene Hoffnung, seine Rendite abwerfen.

Bildung kommt verstärkt ins Blickfeld

Weil die Humanwissenschaften schon seit einiger Zeit immer wieder auf die hohe Bedeutung der frühen Kindheitsjahre hinweisen, ergibt sich die Konsequenz, das „Ansparen“ der Wissensbestände unter den gegebenen verschärften Wettbewerbsbedingungen schon früher als bisher zu beginnen: Die Bildung in der frühen Kindheit und der Bildungsauftrag frühkindlicher Betreuungsinstitutionen kommen verstärkt in das Blickfeld der Bildungsgesellschaft.

An diesem Gedankengang ist zweifellos vieles richtig und verdient Beachtung. Dennoch kann der Bildungsbegriff in solcher Zuspitzung eine deutliche Schwäche für ein grundsätzlich mechanistisches Welt- und insbesondere Menschenbild nicht verbergen. Die Vorstellung, Bildung sei ein Vorgang des Befüllens leerer Gefäße, liegt hier sehr nahe und nicht zufällig ergeben sich dann Berührungspunkte mit der empiristischen Vorstellung vom Menschen als einem unbeschriebenen Blatt, einem „blank sheet of paper“, wie etwa John Locke einst formuliert hat.

Kinder auf programmier- und bedienbare Mechanik reduziert

Gerade in Entgegnung eines solchen Lern- und Erziehungsverständnisses, das das Kind auf eine programmier- und bedienbare Mechanik reduziert, wurde der Begriff der Bildung immer wieder in Stellung gebracht. Von seinem Ursprung her hat der Begriff Bildung eine enge Beziehung zum biblische-theologischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen; so etwa bei Meister Eckhart, der das deutsche Wort „Bildung“ wohl als erster in diesem Zusammenhang gebraucht hat.

Bildung in diesem Sinn hatte schon immer etwas damit zu tun, das, was im Menschen schon da ist, zur Entfaltung zu bringen. Das innere Wesen des Menschen soll nach außen sichtbar gemacht und zur Geltung gebracht werden. Bildung in diesem Sinn zielt dabei auf die einmalige Besonderheit des Einzelnen ab. Das, was an guten Anlagen und Fähigkeiten in jeder menschlichen Person steckt, soll in Ergänzung und Austausch mit den Mitmenschen zur Blüte gebracht werden. So finden die unverwechselbare Einzigartigkeit und die personale Unverzichtbarkeit jedes einzelnen Menschen ihren Ausdruck und die Gemeinschaft der Menschen wird zugleich bereichert.

Im Zentrum aller Bemühungen steht der ganze Mensch

Erziehung und Bildung stehen in dieser begrifflichen Zuspitzung in einer sich wechselweise ergänzenden Komplementarität. Während bei der Erziehung die Aspekte der Fremdbestimmung des Erzogenen und der Verwiesenheit auf den Erfahrungsvorsprung des Erziehenden stärker ins Gewicht fallen, tritt bei der Bildung die Selbstbestimmung und die Herausbildung eines eigenständigen Selbstbewusstseins in den Vordergrund. Erziehung bleibt in dieser Sichtweise ein unabdingbares Handeln, das die ersten Grundlagen für die zunehmend eigenverantwortliche Aufgabe schafft, sich selbst zu bilden.

Im Zentrum aller Bemühungen um Erziehung und Bildung bleibt jedoch der ganze Mensch. Kompetenzen, die vermittelt und angeeignet werden, dürfen nie allein unter Marktgesichtspunkten oder unter Aspekten der reinen Zweckrationalität gesehen werden. Sie müssen immer daraufhin befragt und durchsichtig gemacht werden, in wie weit sie der Entfaltung der menschlichen Person dienen. Oberstes Ziel ist es, verantwortungsbewusste und verantwortungsfähige Individuen zur Entfaltung zu bringen, mündige Bürger und solidarische Mitmenschen. Dass dazu in einer hochkomplexen, arbeitsteilig hoch ausdifferenzierten und international vernetzten Gesellschaft vieles an kognitiven Fähigkeiten wie auch an emotionalen Kompetenzen erforderlich ist, kann nicht bezweifelt werden. Aber in all unseren Diskursen über eine richtige Ausrichtung der zukünftigen Erziehung und Bildung darf die Hinordnung dieser Fähigkeiten und Kompetenzen auf das Wohl der je individuellen menschlichen Person in ihrer Bezogenheit auf die menschliche Gemeinschaft nie aus dem Blick geraten.

Befähigung zur Freiheit

Bei der Erziehung geht es um die Grundlagen für die Bildung einer eigenverantwortlichen Person. So liegt Fichte also mit seinem eingangs zitierten Diktum von der Aufforderung zur Freiheit ganz richtig. Entscheidend ist dabei, Freiheit als das Bewusstsein für die Bedeutung eigener Entscheidungen zu verstehen: Es geht um die Bildung und Entfaltung der eigenen Person zum Guten hin und nicht um die bloße Möglichkeit zur Wahl zwischen Fertigprodukten von der Ernährung bis zur Freizeitgestaltung.

Allerdings dachten die Aufklärer des 18. Jahrhunderts noch, Freiheit sei ein derart mächtiger Selbstläufer, dass schon die bloße Aufforderung dazu genüge, die nötige Eigendynamik für das Entstehen einer Gesellschaft freier Individuen hervorzubringen. Wir müssen uns heute dessen bewusst sein, wie anspruchsvoll es ist, die Verantwortung für sich selbst zu tragen und zu behalten. Ohne die Möglichkeit, sich im Handeln, Denken und Hoffen zu orientieren, kann dies nur schwerlich gelingen. Deshalb ist es eine so wesentliche Aufgabe von Erziehung, auch hierfür das Fundament zu legen. Über die Förderung der körperlichen und mentalen Grundentwicklung muss Erziehung auch die Orientierung in den Fragen des richtigen Handelns und nicht zuletzt der religiös-spirituellen Ausrichtung menschlichen Lebens leisten. Diese Aspekte greifen ineinander und sind letztlich gar nicht voneinander zu trennen.

Es geht um eine Förderung der Entfaltung der menschlichen Person

Erziehung muss in jeder dieser Hinsichten Befähigung leisten und sie muss dies in einem dialogischen Geschehen mit denen tun, die erzogen werden sollen. Es liegt auf der Hand, dass die ersten Träger dieser großen Aufgabe die Eltern sind. Schon aufgrund der Schwierigkeit und Wichtigkeit dieser Aufgabenstellung, aber auch aufgrund vieler Einschränkungen in den eigenen Möglichkeiten bedürfen die Eltern hier der Förderung, der Unterstützung und gegebenenfalls auch der Hilfestellung seitens der größeren menschlichen Gemeinschaft. Dies ist die besondere Bedeutung der außerfamiliären Erziehungs- und Bildungsinstitutionen, die tatsächlich vieles zu einer gelingenden Erziehung beitragen können. Aber in diesen Zusammenhang gehören auch die Familienbildung und –Beratung, deren Aufgaben in den derzeitigen Diskussionen nicht immer ausreichend berücksichtigt werden. Sei es die Familie, der Kindergarten, die Krippe, der Hort oder die Ganztagsschule: Es geht in erster Linie um eine Förderung der Entfaltung der menschlichen Person. Es geht um eine gute Erziehung, die das Kind als ganzen Menschen im Blick behält. Es geht nicht erstrangig um die Erzeugung arbeitsmarktkompatibler Fachkräfte und auch nicht um Betreuung von Kindern zur Freistellung der Eltern für die Arbeitswelt. Diese Aspekte sind zweifellos von hoher Bedeutung. Erziehung und Bildung haben eine andere Ausrichtung: Befähigung zur Freiheit – einer Freiheit, wie Karl Rahner es ausgedrückt hat, die auch Freiheit zur Entscheidung ist, auf den Anruf Gottes zu antworten und in die Partnerschaft mit ihm einzutreten.

Karl Kardinal Lehmann